- Philosophie: Humboldt - Ideal der Humanität und die humanistische Bildungsreform
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Wilhelm von Humboldts Beitrag zum Verständnis der Rolle der Sprache und sein Bildungsideal einer vollkommenen Humanität, das seiner Tätigkeit als Bildungspolitiker zugrunde lag, lassen seine Position bis heute lehrreich und interessant erscheinen. Als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Preußischen Innenministerium betrieb er während der Jahre 1809 und 1810 die Gründung der Berliner Universität und initiierte eine (neu)humanistische Schulreform, über die sein Bildungskonzept zum Vorbild für Bildungsreformen im gesamten deutschsprachigen Raum avancieren sollte.Anders als vor ihm Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der Erforschung des klassischen Altertums in Deutschland, sah Humboldt in den Griechen ein »Naturvolk« im Sinne Jean-Jacques Rousseaus, also eine Gemeinschaft von harmonischen und edlen Menschen. Während Winckelmann in der Kunst des Altertums mehr das Zeugnis und den Spiegel der antiken Lebenswirklichkeit suchte, also von historischem Interesse motiviert war, glaubte Humboldt, in der griechischen Kultur den Schlüssel zum universellen Verständnis der Menschheit gefunden zu haben, das Idealbild des harmonischen Menschen, der alle seine Anlagen, Möglichkeiten und Kräfte gleichmäßig und allgemein ausgebildet hat. Ziel seiner Studien der griechischen Sprache und Kultur war es, zur Erziehung gelungener Menschheit in der Gegenwart, also zur Bildung von wahrer Humanität, beizutragen.Beeinflusst von der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie Herders und der idealistischen Philosophie Fichtes, mit dem Humboldt während eines zweiten Aufenthalts in Jena in den Jahren 1794 bis 1797 in engem Austausch stand, legte er den »Plan zu einer vergleichenden Anthropologie« vor. Als ihre Aufgabe bestimmte Humboldt die Unterscheidung der zufälligen und vorläufigen Eigenschaften des Menschen von seinen wesentlichen und bleibenden. Hierbei werde deutlich, dass die Verschiedenheit der Charakterformen von Individuen, Klassen und Nationen notwendiger Ausdruck der Vielfalt und der Entfaltung der im Menschen selbst liegenden Anlagen und Möglichkeiten ist. Humboldt forderte, dass jeder Mensch alle Verhältnisse, in denen er sich befindet, auf sich einwirken lassen soll, um den auf diesem Weg erhaltenen »Stoff« in »Form«, »Mannigfaltigkeit« in »Einheit« zu verwandeln; je besser ihm dies gelänge, »desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er.« In diesem Sinne sah er in seiner »Theorie der Bildung des Menschen« es als die zentrale Aufgabe des Menschen, sich zu einer umfassend gebildeten, reichen Persönlichkeit zu vervollkommnen. Doch weil der einzelne Mensch für sich alleine genommen in Humboldts Sicht zu schwach ist, dieser beständigen Aufgabe zur Ausbildung seiner umfassenden Persönlichkeit gerecht zu werden, bedarf er der Gesellschaft, der Kultur und der allgemeinen Institutionen der Erziehung. Erst diese befähigten den Menschen, zur Entfaltung seiner ihm allein eigentümlichen freien Individualität zu gelangen. Gesellschaft und Kultur trügen so zur Ausbildung einer größeren Mannigfaltigkeit der individuellen Anlagen in den Menschen bei. Dementsprechend forderte Humboldt von dem Bildungsprozess und den Institutionen, die ihn konkret auszugestalten haben, dass »die individuellen Charaktere so ausgebildet werden sollen, dass sie eigentümlich bleiben, ohne einseitig zu werden, dass sie der Erfüllung der allgemeinen Forderungen an idealische Vortrefflichkeit keine Hindernisse in den Weg legen. In dieser inneren Konsequenz und äußeren Kongruenz mit dem Ideal sollen alsdann alle gemeinschaftlich zusammenwirken.« Diese Bestimmung des Bildungsprozesses als einer Aufgabe der Gesellschaft darf aber nicht als eine Einschränkung des Bildungsziels gesehen werden, das Humboldt zufolge in der Ausbildung einer vollkommenen Individualität der Einzelperson besteht; denn jeder Mensch ist für Humboldt immer nur »für Eine Form, für Einen Charakter geschaffen. Das Ideal der Menschheit aber stellt soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen«.Dieses Ideal einer Bildung von vollkommen ausgeprägten Individualitäten als Ausdruck wahrer Humanität bestimmte auch Humboldts praktische Arbeit als Reformer auf dem Gebiet des staatlichen Bildungswesens. 1809 zum Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens ins Preußische Innenministerium berufen, legte Humboldt die Grundlagen für eine Reorganisation des öffentlichen Schulwesens aus dem Geist des Humanitätsideals. Humboldt widersprach den Bestrebungen zur Schul- und Hochschulreform in Preußen unter seinem Vorgänger, der die Landesuniversitäten zu höheren Fachschulen umformen und die Schulen nach dem Prinzip der unmittelbaren Nützlichkeit ausrichten wollte. Dagegen war es Humboldts Ziel, eine universelle Bildung durch die Entfaltung aller Kräfte der Persönlichkeit zu fördern. Hierbei bediente er sich Vorstellungen der Reformpädagogik des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi, dessen Zielen schon die Freunde und Gesprächspartner der Jenaer Zeit wie Goethe und Fichte zugestimmt hatten. Neben der Realisierung des von Humboldt vertretenen Ideals der Humanität sollte die Reform der öffentlichen Schulen auch dem Wiederaufbau des Staates Preußen nach dessen vernichtender moralischer und militärischer Niederlage durch die französischen Revolutionstruppen 1806 dienen. Am Kampf gegen Napoleon war Humboldt selbst noch nach seinem Ausscheiden als preußischer Bildungspolitiker aus dem Dienst aktiv beteiligt, und zwar als Gesandter Preußens in Wien zwischen 1810 und 1815.Bei seiner Reform der höheren Schulen ließ sich Humboldt von der Überzeugung leiten, dass es gerade der griechische Mensch sei, der dem Ideal reiner Harmonie und Vervollkommnung am nächsten gekommen sei. Grundsätzlich erkannte Humboldt dem Studium der Sprachen einen besonderen Platz im schulischen Curriculum zu. Dies führte ihn zur Konzeption des (neu)humanistischen Gymnasiums, in dem die alten Sprachen Latein und insbesondere Griechisch einen bevorzugten Platz zugewiesen bekamen, ohne dass dies jedoch auf Kosten des Unterrichts in Disziplinen wie Mathematik, Geschichte, den Naturwissenschaften oder den Künsten gehen sollte; denn für Humboldt bestand das Ziel eines Studiums der alten Sprachen nicht darin, diese um ihrer selbst willen zu erlernen, sondern vermittels ihrer einen methodischen wie inhaltlichen Zugang zur Erkenntnis des Menschen überhaupt und eine Einsicht in die Möglichkeit seiner Entfaltung zu einer vollständigen Humanität zu erhalten. »Totalität« bei der Ausbildung der Fähigkeiten der Person, »Harmonie« der individuellen Persönlichkeit und »Universalität« des Wissens, später auch Allgemeinbildung und Orientierungswissen genannt, anstelle von spezialisiertem Fachwissen markierten als Zielpunkte das Programm der von Humboldt begründeten (neu)humanistischen Bildungsreform.Die derart reformierte höhere Schule sollte die Schüler zu einem Studium an der Universität befähigen; diese sollte aber keine Fachhochschule bloß zur Vermittlung fertigen Wissens, keine höhere Institution zur Berufsausbildung, aber auch keine Akademie der Wissenschaften sein, in der erfolgreiche Forscher allein das Gespräch untereinander suchen. Die Universität sollte vielmehr aus der Beteiligung aller Bereiche der Wissenschaften und aus der für sie typischen Verbindung von Forschung und Lehre dazu beitragen, junge Menschen von vornherein in das lebendige Gespräch der Wissenschaften und deren beständige Suche nach neuer Erkenntnis auf dem Weg von Forschung, Diskurs und Kritik mit einzubeziehen. Bei seiner Bemühung um die Gründung einer neuen Universität in Berlin, die zwar auch den strategischen Zielen einer Regeneration Preußens und einer Stärkung des deutschen Nationalgedankens verpflichtet war, verfolgte Humboldt die Absicht, den Einfluss des Staates auf die Universität so gering wie möglich zu halten. Die staatliche Kultusbürokratie sollte sich soweit wie möglich aus der Forschung und Lehre der Wissenschaften heraushalten; der Staat sollte lediglich über die Finanzierung der Universität und die Ernennung beamteter Hochschullehrer eine Mitwirkungsmöglichkeit an der Arbeit der Universität eingeräumt bekommen.Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-BachmannRöd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.
Universal-Lexikon. 2012.